Donnerstag, 9. Oktober 2014
9.10. Donnerwetter
Die Lehren aus den bisherigen niederschlagsreichen Tagen ziehend, begab ich mich ganz in norwegischem Stil mit einer langen Lauflegging außer Haus. Über Jacke und Rucksack schmückte ich mich mit dem Werbe-Poncho und der Warnweste. In diesem Aufzug bemerkte ich beim Tausch des Rücklichtes, dass es nicht abgenommen, sondern abgebrochen (worden) war. Vielleicht sollte ich mein vorschnelles Urteil über den Diebstahl revidieren und mein eigenes Verschulden bei meinen wilden Ritten in der Vergangenheit nicht länger ausschließen. Obwohl ich die tiefen Lacken weitgehend umschiffte, gelangte über den sinnentleerten Kotflügel einiges an feuchtem Kehricht an die Unterseite meines Rucksacks. Vermutlich hätte ich in Österreich bereits am Dienstag entnervt das Handtuch geworfen. In Oslo aber ließ ich mich von den wetterfesten Einheimischen dazu mitreißen, eine weitere Woche ohne öffentliche Verkehrsmittel auszukommen.

Als Belohnung für meine tüchtigen Fortschritte im Projekt spendierte mir Per Arne wie einem abgerichteten Laboräffchen eine überreife Banane. Da sich meine Nicht-Wegwerf-Mentalität angesichts der hohen Lebensmittelpreise noch verschärft hatte, nahm ich das Geschenk dankbar für die Abwechslung zu den Äpfeln des Rikshospitalet an.

Nachmittags leisteten Lisa und Stine Jon und mir zu einer weiteren Runde kollektiver Polypen-Homogenisierung („chopping polyps”) Gesellschaft. Diesmal stand Stine vor einer Blutuntersuchung, weil sie sich in der Makropathologie geschnitten hatte. Während für die beiden Pathologie-Assistentinnen der Umgang mit dem Skalpell langweilige Routine darstellte, empfand ich diese handwerkliche Tätigkeit als willkommene Abwechslung zu meiner Datenarchivierung und Dokumentation.

Dankenswerterweise erhielt ich vom Veranstalter der Bygdøymila per E-Mail nähere Informationen, die ich Steffi weiterleiten konnte. Bei Voranmeldung belief sich das Nenngeld auf 250 NOK (ca. 32 €), bei Nachnennung auf satte 400 NOK. Als Andenken würden die zu erwartenden mehr als 500 Teilnehmer eine Haube bekommen. Für eine Voranmeldung war jedoch ein norwegisches Bankkonto Voraussetzung. Der Veranstalter schlug mir vor, einen Freund von mir um das Begleichen der ausgestellten Rechnung zu bitten und ihm dafür Bargeld auszuhändigen. Mit Andi und meinen Arbeitskollegen gäbe es dafür einige Optionen.

Motiviert von dem bevorstehenden Bewerb drehte ich eine Runde an der Akerselva. Als sich eine tiefschwarze Cumulus-Wolke vor die wärmende Sonne schob, schwante mir bereits Böses. Nach einigen Minuten Gnadenfrist ging ein gewaltiger Regenguss nieder, der sprunghaft an Intensität zunahm. Während zuerst noch gleich gesinnt lächelnde Läufer meine Bahn kreuzten, nahm ich allmählich immer mehr zusammengekniffene Augen und auf rutschiges Laub und undurchsichtige Lacken fokussierte Blicke wahr. Nach diesem kleinen Belastungstest für meinen Positivismus entschädigten mich ein Regenbogen und eine angenehm warme Dusche für die erfahrene Durchnässung.

Angesichts des morgigen kakelunsj verbrachte ich die nächsten 4 Stunden in der Küche. Leider hatte Andi eine sehr arbeitsintensive Woche mit zahlreichen, unausweichlichen Überstunden, sodass ich auf seine Hilfe beim Schälen und Entkernen verzichten musste. Nachdem ich geschätzte 5 kg Äpfel zu Apfelstrudel und Mus verarbeitet hatte, konnte ich auf einen gelungenen zweiten Versuch der Umsetzung von Mamas Rezept zurückblicken. Um das binäre Problem der Rosinen – entweder werden sie verabscheut oder heiß geliebt – zu umgehen und Stines Allergie auf Nüsse zu berücksichtigen, bestückte ich Roberts Retro-Reine mit drei unterschiedlichen Apfelstrudel-Varianten. Die Maus für Stine (Eintrag vom 4.10.) war sogar größer geraten als geplant.

3 verschiedene Apfelstrudel

Zum Schlafengehen erlebten wir ein nicht enden wollendes Gewitter mit Blitz und Donner. Vermutlich ließ uns Thor seinen Zorn spüren, da Andi zuvor seine Portion Shrimps-Spaghetti über den Wohnzimmertisch verteilt hatte.



8.10. Verlustreiche Geduldsproben
Als ich mich vor der Abzweigung nach Sogn bereits in Sicherheit vor dem Regen währte, öffnete der Himmel für die letzten 10 Minuten meiner Fahrradfahrt seine Schleusen, sodass ich mit weithin hörbaren, quietschenden Schuhen die Gänge in der Molpat flutete.

Gezwungenermaßen fügte ich mich dem laborüblichen Aufbereiten der Daten in Excel-Tabellen und verbrachte den gesamten Arbeitstag damit, meine LOH-Analysen zu interpretieren und in ein herzeigbares Dokument auszulagern. Während der Mittagspause klärte Ingun mich über den näheren Ablauf des kakelunsj am Freitag auf. Neben matpakke und Kuchen stand eine Rotweinverlosung auf dem Programm, bei der ich mein Glück versuchen wollte.

Mit zwei sehr erfreulichen Neuigkeiten verließ ich heute das SINTEF. Einerseits werden Lisa und Stine auch an der Forschungstagung teilnehmen, wovon ich mir zwei amüsante und kurzweilige, fast schon denkwürdige Tage verspreche. Andererseits erhielt ich die frohe Botschaft, dass ein Musikerkollege in Zwettl zum dritten Mal Vater geworden war. Gratulerer med babyen, Michi!

Weniger rosig verlief hingegen mein anschließender Ausflug in das Stadtzentrum. Dass ich immer noch ohne Rücklicht unterwegs war, bereute ich spätestens bei der Einfahrt in einen Tunnel, die für Radfahrer nicht dezidiert verboten war. Eingeschüchtert von dem Höllenlärm durch die Belüftungssysteme zuckte ich bei jedem vorbeifahrenden Kraftfahrzeug zusammen und fuhr fast schon in Schräglage an der Wand entlang. Für einen weiten, oberirdischen Bogen um den zweiten Tunnel nahm ich sogar den provokanten Regenschauer in Kauf. Dank der XL-Warnweste eines österreichischen Pannendienstes erreichte ich schließlich unfallfrei das Einkaufszentrum.

Bei Clas Ohlson, einem günstigen Baumarkt, besorgte ich zufällig das gleiche Beleuchtungs-Set, das bereits zuvor auf meinem Leihrad von Gordon montiert worden war. An der Kassa bemerkte ich verärgert den Verlust eines Handschuhs. Als ich lautlos milde schimpfend das Einkaufszentrum verließ, entdeckte ich, am Staubfänger der Drehtür hängen geblieben, meinen leicht ergrauten Handschuh. Die Freude währte jedoch nur kurz, da ich wenig später geschlagene 15 Minuten am Fahrradschloss drehte, rüttelte und riss, zog und zerrte, bis es endlich die Gnade hatte, aufzuspringen. Seit geraumer Zeit kämpften Andi und ich mit diesen billigen Fahrradschlössern von Clas Ohlsson, deren mittlere Aufsperrzeit tendenziell steigt, während die Einzelereignisse immer stärker streuen.

Als zu Hause mein dritter mitgebrachter Bleistift, sofern er diesen Namen ob seiner Winzigkeit verdient, unauffindbar war, schob ich nach einem beschwörenden Blick auf den Kalender alle Missgeschicke des Tages auf den Vollmond und hatte in ihm einen genügsamen Sündenbock gefunden.



7.10. Rätselhafte Entfesselung eines Drahtesels
Beim Verlassen des Hauses wunderte ich mich über mein Rad, das zwar mit versperrtem Schloss in der Wiese stand, aber nicht am Geländer angekettet war. Wie sich später herausstellte, hatte Andi es vor der Arbeit aufgestellt, und ich beim Absperren am Vorabend trotz der Tetris-Melodie zur Förderung des räumlichen Vorstellungsvermögens eine falsche Schlinge gezogen.

Trocken, aber ziemlich unausgeschlafen erreichte ich das SINTEF und kontrollierte daher jeden Arbeitsschritt dreifach vor seiner Ausführung, da ich Konzentrationsfehler befürchtete. Erstaunlicherweise ging weder bei der spektralphotometrischen Konzentrationsmessung noch bei der LOH-Analyse der colorectalen Proben nachweislich etwas schief. Parallel dazu setzte ich mit der qualitativ hochwertigen DNA aus den 80er-Jahren eine Reihe an Versuchen an, um der ausbleibenden Amplifikation eines dafür berüchtigten Markers auf den Grund zu gehen. Ingun führte mich in die Herstellung von Primer-Mischungen ein, was im zweiten Abschnitt meiner Forschungen mein tägliches Brot sein wird. Den Auftrag, ein neues LOH-Paket für Chromosom 3, 4 und 10 zu entwickeln, werde ich nur mit empirischen Austestungen verschiedener Mischungsverhältnisse und Zusammensetzungen erfüllen können.

Gestern hatte ich einen Brief vom Tax Office erhalten, der rücksichtsvollerweise auf Norwegisch verfasst war. Immerhin konnte ich dem ersten Satz sinngemäß entnehmen, dass der Inhalt nicht für den Arbeitgeber bestimmt war. Deshalb konsultierte ich eine Übersetzungshilfe im Internet und fand trotz der abenteuerlichen Satzkonstruktionen heraus, dass es sich um eine Steuerabschätzung basierend auf meinen Gehaltsangaben handelte. Zu Hause wartete bereits der zweite Brief auf mich, der neben meiner temporären ID-Nummer praktischerweise eine englische Erläuterung enthielt.

Bei der Recherche von Laufbewerben in Oslo war ich nicht nur auf die Bygdøymila aufmerksam geworden, sondern hatte auch den Nøklevannrundt am 11.10. gefunden. Der 9 km lange Kurs um den See in der Nähe der abgeholten Küchenwaage (Eintrag vom 26.9.) hätte mich zwar angesprochen, das Startgeld bei Voranmeldung war mir aber mit 350 NOK (ca. 44 €) für diese kurze Distanz entschieden zu hoch.

Außerdem bestanden gewisse Unsicherheiten, wie lange uns das hartnäckige Tief, dessen Ausläufer während seiner Rotation bis weit in den Norden ausgriffen, noch in der Mangel haben würde. Jedenfalls waren für die nächsten Stunden und Tage gewaltige Niederschlagsmengen vorhergesagt, sodass ich weiterhin auf die zumindest aus hygienischen Gründen nicht erforderliche Laborkleidung zurückgreifen würde.

Wetterkarte vom 7.10.2014 von wetter3
Quelle: www.wetter3.de/Archiv/. Aufgerufen am 09.10.2014.



6.10. Und sie trinken doch
Nachdem ich tatsächlich das erste Mal nass im SINTEF eingetroffen und dankbar in die seit meinem Abteilungswechsel unbenützte Laborkleidung geschlüpft war, stellte ich mehrere Verdünnungen der DNA-Eluate von colorectalen Carcinomen her und erfasste deren Konzentrationen. Erfreulicherweise stimmten die Relationen überein. Unaufgefordert hatte Dag mir ein eigenes Programm für den Pipettierroboter erstellt, das er sogar nach mir benannt hatte. Damit konnte ich meinen Ansatz für die genomische PCR einfach durch Anwählen des grünen Pfeils zusammenmischen lassen, vorausgesetzt die Reagenzien, PCR-Platten und Pipettenspitzen standen an ihrem richtigen Platz. Mit dem Ergebnis, dass eine Verdünnung im Verhältnis 1:2 am besten geeignet ist, Inhibitoren zu unterdrücken und gleichzeitig möglichst viel DNA im Ansatz zu behalten, konnte ich Per Arnes Weltbild nicht erschüttern. Er hatte mir bereits am Freitag vorgeschlagen, mit diesen Verdünnungen die LOH-Analysen durchzuführen.

Beim gemeinschaftlichen matpakke im møterom konnte ich der auf Norwegisch geführten Debatte über den für Freitag angesetzten kakelunsj so weit folgen, dass ich auf Englisch anbot, einen österreichischen Apfelstrudel zu backen. Alle drei Wochen verbindet die Abteilung für Pathologie das Angenehme mit dem Nützlichen, indem abwechselnd eine andere Forschungsgruppe für Kuchen nach einer gemeinsamen Mittagspause im großen Konferenzzimmer der Makropathologie sorgt. Dabei steht selbstverständlich der Austausch über die aktuelle Forschung im Vordergrund. Am kommenden Freitag würde die Molpat-Gruppe insgesamt 5 Kuchen für alle Ärzte, Assistenten, Techniker und BMAs mitbringen.

Jon, der von Per Arne betreute, schlaksige PhD-Student, berichtete mir mit der Begeisterung eingeschlafener Füße von der Vergabe des Medizin-Nobelpreises an zwei verheiratete Neurowissenschafter des NTNU Trondheim (und einen US-Amerikaner), bei denen er während seiner Studienzeit sogar einige Vorlesungen gehört hatte. Da diese Meldung den Nationalstolz jedes Norwegers hervorkehren muss, kann es nur an Jons beinahe apathischer Art liegen, dass er seinen Enthusiasmus derart geschickt verbergen konnte.

Am Nachmittag eröffnete mir Per Arne die überwältigende Möglichkeit, an einer Forschungstagung teilzunehmen. Da ich ohne Umschweife zusagte, händigte er mir sofort das Programm aus. Am 31.10. und 1.11. werden in einem Hotel in der Nähe des Osloer Flughafens Vorträge über Krebsforschung, Onkologie, Entzündungsprozesse, genomische Pathologie, Nano-Strings, In-situ-Hybridisierung, Massenspektrometrie, digitale Techniken und einige organisatorische Aspekte abgehalten. Dazwischen gibt es gemeinsame Kaffeepausen und sogenannte Poster-Sessions, bei denen über die auf Pinnwänden illustrierten Inhalte angeregt diskutiert werden soll. Am Freitag Abend werden wir zu einem noblen Dinner im Norwegian Armed Forces Aircraft Museum eingeladen. Einige Mitarbeiter des Rikshospitalet werden als Referenten vertreten sein, andere, z.B. Jon und ich, als verantwortungslose Teilnehmer.

Auf der abendlichen, vom Dirigenten vollständig auf Norwegisch abgehaltenen Probe erlebte ich das vertraute Phänomen, dass die Konzertstücke seit Anfang September noch nicht bedeutend weitergereift waren. Obwohl dieser Musikverein erstaunlich gute Blattlesekompetenzen vorweisen kann, scheiterten wir kollektiv an dem „molto accelerando” in der Tetris-Melodie. Korobeiniki (Коробейники – die Hausierer) hat als russisches Volkslied einen mitreißenden Tanzcharakter, der möglicherweise auch das räumliche Vorstellungsvermögen beim Puzzeln anregt.

An der Turnsaalwand aufgehängte Fotos eines Schulausflugs in die Freia-Fabrik regten jedenfalls meine Neugier an, dieser Schokoladen-Hochburg mit Andi, Gordon und Anna II einen Besuch abzustatten. Da es sich heute um den ersten Montag im Oktober handelte, wurde das gemeinsame Fortgehen quasi vom Dirigenten angeordnet. Als Stammlokal der Musiker stellte sich tatsächlich jene Tapas-Bar heraus, die ich bereits mit Michi erfolgreich auf ihre Gemütlichkeit geprüft hatte.

Musiker-Stammlokal in der Sofienberggata

Da den Musikern ein Spezialpreis von 55–NOK (ca. 7–€) statt 68–NOK (ca. 8,5–€) für eine Halbe Ringnes gewährt wird, wird der Abend trotz des nächsten Arbeitstages gelegentlich ausgedehnt. Den zuvor verkündeten Konsens, nach einem Bier nach Hause zu gehen, warfen außer mir alle über den Haufen, sodass ich vor den Feierlichkeiten nach dem Konzert am 25.10. bereits einigen Respekt habe. Neben den humorvollen Kollegen Siri, die ich vorige Woche im Bleistiftduell besiegt hatte, und Hans schmeckte mir sogar das gewöhnungsbedürftige Bier.

Pub-Runde am ersten Montag im Oktober

Als mir vor dem ca. 200 Meter langen Heimweg das Rad wegen seines mit der Oboe ungleich belasteten Fahrradkorbs umfiel, dämmerte mir, dass ich mich über die norwegische Gesetzeslage zu alkoholisiertem Radfahren informieren sollte. Beim anschließenden Blick aus dem Küchenfenster bemerkte ich, dass der brausende Sturm offensichtlich mein an das Geländer gekettete Rad – auf den Weg zum Fahrradkäfig verzichte ich nach der Probe immer – umgeweht hatte. Da mich der Verlust seiner potentiellen Energie eher beruhigte als aufwühlte, fiel ich kurz vor Mitternacht schließlich in einen bleiernen Schlaf.



5.10. Ein norwegischer Sonntag
Bei meinem bereits zur Tradition gewordenen Sonntagslauf nach Bygdøy entdeckte ich nicht nur die wunderschöne Strandpromenade, sondern auch einige Transparente mit der Ankündigung der Bygdøymila, einem Laufbewerb über eine norwegische Meile, also 10 km, der am 19.10. stattfinden würde. Da ich an besagtem Wochenende als dritte Besucherin Steffi in Empfang nehmen würde, wollte ich ihr dieses Ereignis als Programmpunkt für ihren Aufenthalt schmackhaft machen, um uneigennützigerweise selbst daran teilnehmen zu können.

Heute setzte ich außerdem ein schon länger gehegtes Vorhaben in die Tat um, indem ich zur 11-Uhr-Messe in der Domkirke radelte. Beim Eingang wurden mir ein Gotteslob und ein Programmheft für die Høymesse (= Hochamt) auf Norwegisch überreicht, was wohl den touristischen Anspruch erfüllen soll. Unter den wenigen Messbesuchern fanden sich nach meiner Einschätzung tatsächlich kaum Einheimische. Außerdem waren die Bänke nur am Rand besetzt. Vor der Messe verkündete der Chorleiter in einem weißen Überkleid einige Neuerungen, wobei ich sinngemäß verstand, dass ein neues Gotteslob verwendet würde und man trotzdem kräftig mitsingen sollte. Pfarrer, Mesnerin, Ministranten und der gesamte Kirchenchor zogen durch das Hauptportal ein, während sich das Volk ihnen stehend zuwandte. Da im Programmheft sogar die Lesungen abgedruckt waren, konnte ich die ungewöhnliche Aussprache mancher Wörter mit dem Textbild verknüpfen. Trotz sprachlicher Unsicherheiten erlaubte ich mir, aus vollem Hals mitzusingen, was mir bei „Halleluja” und „Amen” besonders unauffällig gelang.

Messe in der Domkirke

Von der Predigt des Pfarrers, dessen vermeintlich nassen Haare während der ganzen Messe nicht trockener wurden, verstand ich immerhin, dass er ausdrücklich auf die Deckenfresken hinwies. Dies unterstrich er von der Kanzel aus mit ausladenden Gesten und der sangbaren norwegischen Sprachmelodie. Nach dem Agnus Dei (= Guds Lam) und dem Friedensgruß (= Fredshilsen bzw. „Guds fred”) empfing ich die laut Programmheft glutenfreie Kommunion (= Utdeling). Ungewohnt waren für mich die Eucharistiefeier, die der Pfarrer mit dem Rücken zur Gemeinde zelebrierte, sowie der 3x3-Glockenschlag zum Auszug. Beeindruckt von dieser Messe werde ich während meines Aufenthalts bestimmt noch weitere Gelegenheiten dazu wahrnehmen und auch andere Kirchen aufsuchen.

Kanzel der Domkirke

Altar in der Domkirke

Orgel in der Domkirke

Während Andi mit Gordon und Anna II eine Fahrradtour unternahm, bereitete ich nach einem Rezept auf der Verpackung des Lammfleisches meinen ersten fårikål zu. Nachdem ich ein paar Vokabel nachgeschlagen hatte, kochte ich das Nationalgericht mit einigen Abänderungen nach. Statt mich nur auf Salz und Pfeffer zu beschränken, fügte ich darüber hinaus Koriander, Knoblauchzehen und Kümmel zu. Die vorgeschriebene mehrstöckige Schichtung von schiffchenförmigen (= båt-formet) Kraut-Achteln über Lammfleischstücken befolgte ich ebenso wie die zweistündige Garzeit, in der das Kraut zwar tot gekocht, das Fleisch aber aromatisch zart wurde. Schließlich duftete und schmeckte das Gericht mindestens so gut wie, wenn nicht sogar besser als, der fårikål aus der Kantine (Eintrag vom 25.9.).

Selbstgemachter fårikål

Um den für morgen prognostizierten Regen bereits während der Morgentoilette in aller Deutlichkeit wahrzunehmen, putzte ich anschließend unter Ausschöpfung meiner Möglichkeiten die Fenster. Da sie weder gekippt noch sperrangelweit geöffnet werden können, hinterließ ich außen trotz aller Bemühungen, meinen Arm durch den schmalen Spalt in der Mitte bis zum Fensterrahmen auszustrecken, gezwungenermaßen an den oberen Ecken einen putzfreien Radius, der dem eines Autoscheibenwischers glich.

Per Arnes Vorhersage, dass ich in der kommenden Woche um die T-banen (= U-Bahn) nicht herumkommen würde, betrachtete ich dennoch als Herausforderung. Während mangels Nebels der Herbst in Oslo weiterhin in vollem Glanz erstrahlte, kramte ich aus den Untiefen meines Gepäcks vorsorglich den mit Werbeaufdrucken eines österreichischen Radiosenders imprägnierten Regenponcho und die XL-Warnweste eines österreichischen Pannendienstes hervor.

Goldener Herbst

Nun zu den Meldungen der Sonnenauf- und -untergangszeiten:

Oslo: 7:30 und 18:39
Wien: 6:58 und 18:27



4.10. Der Berg kreißte und gebar eine Maus
Nachdem ich einer vermeintlichen Geschirrspülmittel-Aktion eines mäßig teuren Supermarkts doch nicht auf den Leim gegangen war, versuchte ich erneut, die Teller von Troels abzuholen. Inzwischen hatte er mir neben seiner Handynummer auch verraten, dass der Eingang die Nummer 38 hat, sodass ich zuversichtlich war, mein Ziel zu erreichen.

Auf dem Weg dorthin saugte ich jedoch noch die herrliche Farbenpracht der Laubbäume im Tøyenpark auf, bevor uns die niederschlagsreiche Kaltfront zu Wochenbeginn erreichen würde.

Tøyenparken

Herbst in Sofienberg

Zweifarbiger Laubbaum

Troels beschrieb mir über die Gegensprechanlage den Weg durch den Hof zum Eingang 3C, den ich auf eigene Faust niemals gefunden hätte. Während er seiner schwangeren Frau beim Kochen half, ließ er mich aus einer Lade mit ausrangiertem, inzwischen von Hochzeitsgeschenken abgelöstem Geschirr meine Auswahl treffen. Er hatte sogar Kartons und Säcke vorbereitet, damit ich meinen steuerfreien Einkauf unbeschadet nach Hause transportieren konnte. Seitdem finden sich in Andis Küche Suppen- und Dessertteller sowie etliche Schüsseln, womit ich die Aufrüstung für abgeschlossen erkläre. Obwohl – ein Kochlöffel wäre schon noch praktisch. ;)

Geschirrkauf via FINN

An diesem Abend wagte ich mich erstmals an das von meiner Mama für schwierig befundene Rezept des ausgezogenen Apfelstrudels. Mengenangaben wie „eine Schüssel Mehl” und „etwas Öl” zeugten von ihrer langjährigen Erfahrung und dem dabei erlangten Gespür, das Küchenwaage und Messbecher zu ersetzen vermochte. Das Zitat „den Teig rasten lassen, während die Äpfel geschält und gehachelt werden” lässt nur die Interpretation zu, dass für das Gelingen der Einsatz von Küchengehilfen unbedingt erforderlich ist. Da Andi dieser Betätigung leidenschaftlich frönt, hatte ich dabei nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Die erste Teigportion glitt mehr recht als schlecht über mein Handgelenk und riss dabei einige Löcher auf, die ich nach nicht enden wollenden Versuchen müde wurde zu stopfen. In abgestimmter Kooperation verfrachteten wir den fertigen Strudel in die Reine aus Røa (Eintrag vom 28.9.) und ich nahm den zweiten Teigling in Angriff. Dieser zog sich rasend schnell in die Länge, sodass die Breite nicht annähernd die Dimension des bemehlten Geschirrtuches erreichte. Andis Vorschlag eines Neustarts durch die Rücktransformation des ausgezogenen Teigs in eine Kugel klang in meinen Ohren sehr vernünftig, weshalb ich ihn umsetzte. Doch es stellte sich heraus, dass dieser Strudelteig eine Einbahnstraße darstellt. Einmal ausgezogen und wieder zusammengeballt verliert er erbarmungslos all seine Elastizität. Gemäß dem in Andis Küche seit meiner Anwesenheit oft zitierten Ausspruch, dass gegessen wird, was auf den Tisch kommt, füllten wir diesen bockigen Teig zu einem wulstigen Strudel und lehrten ihn bei 180°C im Rohr das Fürchten. Das Ergebnis erinnerte mich an den Lateinunterricht im Gymnasium – „Der Berg kreißte und gebar eine Maus.”

Gezogener Apfelstrudel



2.10. Geplatzter Deal
Tatsächlich funktionierte die LOH-Analyse auch für die niedrig konzentrierten Verdünnungsstufen, was Per Arne natürlich nicht verwunderte, für mich aber mit dem Erreichen eines weiteren Lernzieles gleichzusetzen war. Nun sollte ich dieselbe Prozedur mit neuen, qualitativ weniger hochwertigen Proben durchführen. Dabei handelte es sich um je zwei DNA-Eluate aus normalem bzw. von Tumorzellen befallenem Gewebe (N und T) von 10 Patienten mit colorectalen Carcinomen. Dieses war aus Paraffinblöcken gewonnen worden und hatte durch die vorangegangene Formalineinbettung mehr oder weniger stark an Qualität eingebüßt.

Da ich im Eifer des Gefechts beim Ansetzen der genomischen PCR auf die Zeit vergaß und das Antreten zur gemeinschaftlichen Mittagspause verpasste, war ich mit einem Schlag völlig auf mich allein gestellt. Ohnehin schon ein wenig vom Pech verfolgt, konnte ich mich nicht mehr an das korrekte Programm erinnern und verbrachte einige verzweifelte Minuten mit der Suche nach norwegischen Arbeitsanleitungen und anderen minder aussagekräftigen Anhaltspunkten. Schließlich konnte ich eine in ihrem Büro gebliebene, mit einem Projekt überlastete Kollegin kurz unterbrechen und dank ihrer aufopfernden Hilfe doch noch die richtige Analyse starten.

Als ich Taekwondo-Meister Dag später um Unterstützung beim Auswerten der genomischen PCR bat, war seine erste entlarvende Frage, ob ich die Platte etwa mit Folie zentrifugiert hätte, weil das Amplifikationssignal so „wackelig” war. Tatsächlich war mir dieser Fehler unterlaufen, sodass ich beschloss, dieses an mehreren Stellen missglückte Experiment abzuhaken und morgen eine Wiederholung zu starten.

Nachmittags fand ich eine willkommene Zerstreuung, indem Jon und ich Besuch von der Pathologie-Assistentin Lisa erhielten, die uns in die elitäre Kunst des Zerhackens von frischen Darmpolypen-Biopsien („chopping polyps”) einweihte. Mit gewohnt schwarzem Humor und bewaffnet mit scharfen Skalpellen homogenisierten wir die Proben und setzten ihnen Puffer und Proteinase zu, damit sie über Nacht verdaut würden und wir ihre DNA eluieren könnten.

Abends nahm ich als vorläufig letzten Gebrauchtwarenkauf eine Tellerabholung in der Nachbarschaft in Angriff. Als Tourist getarnt hielt ich die täglich im Sofienbergpark grillenden Familien fest, was dem Lenker eines weißen Kleinbusses nicht behagte, woraufhin ich mit einem Unschuldsblick von dannen rollte. Mir waren beim Vorbeilaufen bereits einige Male geschäftstüchtige Gestalten aufgefallen, die am helllichten Tag Scheine gegen in der Faust verborgene, kostbare Ware tauschten.

Grillen im Sofienbergparken

Troels Teller waren an einer Adresse mit der Nummer 3C abholbereit. Als ich eben diesen Platz absuchte und neben der Nummer 2 anläutete, erhielt ich die Auskunft, dass sich der Eingang zur Nummer 3C in der Straße um die Ecke befände. Dort konnte ich jedoch weder ein Türschild mit Troels Namen noch eine Hausnummer 3C finden. Obwohl die beiden Verkäuferinnen des Olivengeschäfts an der Ecke mit Hausnummer 3 äußerst hilfsbereit und bemüht waren, mit mir gemeinsam dem Rätsel auf die Spur zu kommen, trat ich nach einer Runde um den ganzen Häuserblock ohne Teller die Heimfahrt an. Recht spät wollte ich es nicht werden lassen, da ich noch keine Zeit gehabt hatte, mir ein neues Rücklicht für mein Fahrrad zu besorgen.



29.9. Wunden und Krebs
Bei meiner Fahrt ins Labor machte sich Andis Bremsenreparatur mehrmals bezahlt. Inspiriert von Gordons unkonventionellem Fahrstil und seiner Ignoranz gegenüber roten Ampeln forderte ich einige Beinahe-Unfälle heraus, die mir eine Lehre sein sollten. Auf einer Nebenstraße legte ich für einen ansehnlichen Apfel eine Vollbremsung hin und bettete ihn sachte in meinem Fahrradkorb.

Putzmunter widmete ich mich anschließend meinem Forschungsprojekt. Zunächst prüfte ich die Qualität der DNA-Verdünnungen mit einer genomischen PCR, wobei mich dankenswerterweise der technikaffine, Taekwondo-kämpfende Dag bei der Bedienung des Pipettierroboters unterstützte. Er stellte meinen Ergebnissen ein hervorragendes Zeugnis aus, sodass ich sofort die LOH-Analysen meiner Proben anschließen konnte. Dazu erhielt ich von Ingun, die in diesem Bereich mit fachlicher Expertise brilliert, wertvolle Tipps für die Praxis und einen lehrreichen Einblick in den theoretischen Hintergrund. Aufgrund der fortgeschrittenen, wie im Flug vergangenen Zeit verschob ich die mit Spannung erwartete, kapillarelektrophoretische Auswertung der PCR auf den nächsten Tag.

Durch die aufreibende Kombination von Desinfektionsmitteln und Gummihandschuhen waren meine Brandblasen vom Vortag undicht geworden und würden als lange währendes Mahnmal dienen. Deshalb ließ ich im Umgang mit dem ersten selbstgemachten fiskegrateng, dessen Rezept ich von meinem Besuch bei Valerie und Georg aus Bergen importiert hatte (Eintrag vom 19.8.), besondere Vorsicht walten. Dennoch schlichen sich durch meine Recherche für die Bachelorarbeit Erkenntnisse auf dem Gebiet der Krebsforschung in meine Gedanken, dass Tumore als nicht heilende Wunden beschrieben und im entzündlichen Milieu leichter initiiert oder in die Progression getrieben werden können.

Als ich mein für lächerliche 2 Stunden am Geländer vor der Haustür angekettetes Rad für die abendliche Probe sattelte, stellte ich entsetzt den Verlust bzw. Diebstahl des Hinterlichts fest. Dadurch wurde mein blindes Vertrauen in die Norweger ein wenig erschüttert.

Bei der Probe waren erneut die Holz- und Blechbläserfraktion voneinander getrennt, wobei wir im Keller mit einer resoluten Dirigentin unter anderem ein norwegisches Wiegenlied mit dem Titel „Bæ, bæ lille lam” probten, bevor wir uns eine Jazz-Version des Gospels „Just a Closer Walk with Thee” zu Gemüte führten. Das Lied vom kleinen Lamm erinnerte mich an „Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann”, lässt sich aber aufgrund seiner einfachen Akkordfolge und Melodie bestimmt mit unzähligen anderen Liedern vergleichen. Als mich die Dirigentin direkt ansprach und sinngemäß die ausgewogene Klangbalance durch das neue Instrument lobte, büßte ich meine mangelnden Sprachkenntnisse nicht lange, da sich herausstellte, dass sie über mittelmäßige Deutschkenntnisse verfügte. Daraufhin leitete sie die Probe zu ihrem Vergnügen mehr auf Deutsch als auf Norwegisch, sodass ausgerechnet ich meinen planlosen Registerkollegen mit Übersetzungen ins Norwegische behilflich war, z.B. „von Beginn” = „fra starten”. Eine mir bis dahin unbekannte Klarinettistin, die der Probe mit Sonnenbrillen und einem erfrischend alternativen Kleidungsstil beiwohnte, wurde ein wenig belächelt, als sie ihren Bleistiftwinzling aus der Tasche zog. Siegessicher stellte ich mein Stummelchen daneben und stach ihr Schreibgerät um knappe 2 mm aus. In der Pause brachte ich in Erfahrung, dass beim Konzert am 25.10. nur 4 Stücke auf dem Programm stünden: „Super Mario”, „World of Warcraft”, „Video Games Live” und je ein Stück für Holz- bzw. Blechbläser. Trotzdem würde danach ausgelassen gefeiert werden, wobei diese Definition sicher an die norwegischen Alkoholpreise angepasst werden muss.