24.10. Diamant-Reflektoren
Nachdem ich bei unwahrscheinlichen 11°C die Wohnung verlassen und die Haube sofort wieder eingepackt hatte, erwischte ich auf Anhieb den richtigen Abgang zur U-Bahn. Trotz des allgemeinen Arbeitsbeginns fuhren die sechs Linien teilweise in 10-Minuten-Intervallen. Praktischerweise bringen mich drei davon direkt zum „Forskningsparken”. Im Zentrum von Oslo, von Tøyen bis Majorstuen, halten alle sechs Linien an insgesamt sechs Stationen, bevor sie sich aufteilen und die Randbezirke aller Himmelsrichtungen an das Netz anbinden. Gemessen an der Größe der Stadt wäre die U-Bahn (= T-bane) schon entbehrlich, während Straßenbahnen und Busse der reinste Luxus sind.

Mit meinem Perspektivenwechsel vom Radfahrer zum Fußgänger schärfte sich auch mein Bewusstsein für die Sichtbarkeit. Anlässlich des Tags des Reflektors lagen diese Woche in der Kaffeeküche diamantförmige Reflektoren zur freien Entnahme auf, von denen ich je einen an meiner Jacke und meinem Rucksack befestigte. Dieser schicke Ersatz für die dreckbespritzte Warnweste über dem Regen-Poncho ist dem Portier im SINTEF bestimmt nicht entgangen, erwidert er doch täglich ausgesprochen freundlich meine norwegischen Grüße beim Betreten und Verlassen des Gebäudes.

Beim traditionellen Freitags-Meeting brachte uns ein Gastprofessor die Forschungstätigkeit in seiner Abteilung in Überlänge näher. Danach mikroskopierten Jon, Lisa und ich mit dem Oberarzt Krzysztof – er verzeihe mir die möglicherweise falsche Anzahl und Position der „z” in seinem Namen – immunhistochemisch gefärbte Schnitte von Adenomen und Carcinomen im Darmtrakt. Dazu bedienten wir uns eines Diskussionsmikroskops mit 8 Okularen. Während dies in österreichischen Labors umgangssprachlich als „Hirsch” bezeichnet wird, bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich hierzulande um einen „Elch” handelt. Krzysztof würzte die Lehrstunde sporadisch mit seinem trockenen Humor und lehnte das Angebot eines größeren Büros mit der Begründung ab, nicht noch mehr Platz für Objektträger haben zu wollen. Die Samthandschuhe im Umgang mit Jon würde er jedenfalls ablegen, sobald Jons nächste Publikation, bei der Krzysztof als Drittautor aufscheinen würde, in einem Journal abgedruckt ist.

Verspätet, also fast schon zur gewohnten österreichischen Mittagszeit, nahmen Jon und ich unser matpakke im Konferenzzimmer ein. Daneben hielten wir eine Besprechung mit Per Arne ab, in der er meine nächsten Aufgaben umriss. Er würde mir einen Kriminalfall konstruieren, den ich mit einer ID-PCR lösen sollte. Dabei sollte ich anhand von DNA aus Wangenschleimhautzellen eine Patientenverwechslung aufdecken. Davor könnte ich noch 33 weitere colorectale Carcinome (CRC) auf LOH und MSI untersuchen, damit die Datenbank auf 50 ausgewertete Patienten anwachse. Oberste Priorität hätte jedoch die Entwicklung eines neuen LOH-Pakets, für das die Reagenzien zwar schon bestellt, aber noch nicht eingetroffen sind. Falls ich meine Arbeit hier nicht beenden könnte, würde sie jemand anderer weiterführen und Per Arne würde mich über den Ausgang auf dem Laufenden halten.

Zunächst widmete ich mich mangels Alternativen weiteren CRC-Proben. Nach der Auswahl von 39 Patienten mit je einer Probe mit normalen Zellen (N) und Tumorzellen (T) und davon wiederum je zwei Verdünnungsstufen versagte mir die Etikettiermaschine ihren Dienst. Von den jungen Kolleginnen wusste niemand, wo eine neue Etikettenrolle zu finden war, weil sie in ihrer kurzen Laufbahn noch nicht vor diesem Problem gestanden waren. Der etwas ältere Dag wechselte schließlich mit einigen routinierten Handgriffen die Rolle, sodass ich kurz darauf gut vier Meter mit meinen 156 Etiketten in Händen hielt.

Mit einer Banane als Belohnung entließ mich Per Arne ins wohlverdiente Wochenende. Um mir zumindest das gute Gefühl einer schlechten Generalprobe zu verschaffen, übte ich die Konzertstücke alleine in der Wohnung. Jon wird morgen leider doch nicht im Publikum sitzen, weil seine Freundin und die Freundin eines Freundes verreist sind und die Burschen daher das Wochenende mit günstigem Alkohol in Schweden verbringen werden. Da Gordon und Anna II ihren Konzertbesuch wetterabhängig spontan entscheiden wollen, könnte ich in der Statistik der meisten mitgebrachten Zuhörer noch weit zurückfallen.