Dienstag, 28. Oktober 2014
28.10. Produktiv
Zum Frühstück bei Tageslicht fusionierten Andi und ich zwei Kuchenrezepte, die ich vor einem Monat bei meinem Kurzbesuch zu Hause aus Mamas altbewährtem Kochbuch fotografiert hatte. Dazu diktierte ich ihm eine detaillierte Anleitung für die Zubereitung, weil ihm mit der reinen Zutatenliste für seinen Geburtstagskuchen nicht geholfen sein würde.

Bei erstaunlichen 14°C radelte ich erneut gegen den Sturm und hatte gelegentlich Mühe, die Spur zu halten. Danach verbrachte ich einen arbeitsintensiven, produktiven Tag im Labor. Im Gegensatz zu meinen ersten zwei Wochen als Zuschauer auf der Makropathologie genoss ich die Geschäftigkeit und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Zum Pipettieren gab „Radio Norge” mit norwegischem Reggae und sanftem Techno den Rhythmus vor. Beinahe pünktlich zum lunsj hatte ich die Kapillarelektrophorese-Apparatur mit zwei bis auf die letzte Vertiefung vollen PCR-Platten belagert und zwei neue Platten für die DNA-Amplifikation (PCR) in die Thermocycler eingebracht. Nachmittags unterwarf ich noch drei Platten der PCR. Mit einer Überstunde hätte ich sogar noch die Fertigstellung der kapillarelektrophoretischen Fragmentanalyse abwarten und einen neuen Lauf starten können. Um morgen auch noch mit abwechslungsreicher Arbeit eingedeckt zu sein, verließ ich jedoch zur gewohnten Zeit das Labor.

An der Akerselva nutzten einige Kinder die stürmischen Verhältnisse, um ihre bunten Drachen steigen zu lassen. Zu Hause erwischte mich Andi beinahe am falschen Fuß, weil er ungewohnt früh von der Arbeit heimkam. Obwohl in seinem Vertrag weder Zeitausgleich noch bezahlte Überstunden noch Urlaubsgeld vorgesehen sind, wird seine Leistung nicht nach Arbeitsstunden, sondern nach Produktivität gemessen. Da morgen sein Geburtstag war, ließ er die offenen Aufgaben dennoch ruhen und widmete sich seinem ersten selbst gebackenen Kuchen seit Kindheitstagen.

Durch das Anzüchten des Sauerteigs war leider unsere einzige Rührschüssel besetzt, sodass ich von den Nachbarn eine Küchenmaschine oder zumindest eine Schüssel ausborgen wollte. Obwohl ich frisch geduscht in die Spione lächelte, öffnete erst im zweiten Stockwerk über uns jemand die Tür. Da die Küche des Studentenpaares mit keiner Plastikschüssel dienen konnte, kehrte ich unter vorgespielter Dankbarkeit mit einer robusten Keramikschüssel als Notlösung von meinem Ausflug ins Stiegenhaus zurück. Nachdem ich Andi vorgewarnt hatte, dass der Mixer bereits auf niedrigster Stufe auf Hochtouren läuft, überließ ich ihm die Küche. Gelegentlich erkundigte er sich nach der korrekten Umsetzung von Definitionen wie „schaumig” und „unterheben”. Abgesehen davon fabrizierte er seinen Schoko-Nuss-Kuchen völlig ohne meine Hilfe. Dabei leistete die geborgte Keramikschüssel wider Erwarten brauchbare Dienste. Durch das exakte Einhalten der maximal 10-minütigen Verarbeitungszeit von Backpulver ging das Werk in der Kastenform gewaltig in die Höhe. Diese Aufgabe werden morgen früh bei dem Sauerteigbrot die Hefepilze übernehmen, von deren erfolgreicher Vermehrung der Geruch bereits zeugt. So intensiv und produktiv wie heute und morgen kann diese Küche, gemessen an der vorhandenen Ausstattung, bisher nicht genutzt worden sein.



27.10. Meteorologie-Lektion im Radio
Dank Andis professioneller Reparatur konnte ich heute wieder in die Arbeit radeln, was bei morgendlichen 12°C und täglich neuen Horrormeldungen zu Ebola-Fällen definitiv einer U-Bahn-Fahrt mit potentiell infektiösen Mitreisenden vorzuziehen war. Obwohl ich teilweise gegen den starken Wind ankämpfen musste, war ich auch heute die durchschnittlichen 5 Minuten schneller als mit der T-banen. Durch die windbedingt perfekte Durchmischung konnte ich den trockenisentropen Temperaturgradienten von -1°C pro 100 m bei der kleinen Bergetappe von Sofienberg nach Sogn am eigenen Leib spüren. Außerdem ermöglichte die Zeitumstellung den Verzicht auf die überdimensionierte Warnweste.

Während ich im Labor 156 Röhrchen mit Etiketten versah, da es entgegen der Annahme von Per Arne hierfür keinen Automaten gibt, ließ ich mich von „Radio Norge” unterhalten. Bevor sich die Lieder nach knapp zwei Stunden zu wiederholen begannen, erteilte ein Meteorologe im Zuge der Sendereihe „fun facts” eine Lektion über den Zusammenhang von Druckverhältnissen und Wind. Durch meine fachliche Kompetenz konnte ich manch sprachliches Hindernis überwinden, sodass ich nahezu lückenlos mitbekam, dass als grobe Richtlinie der höhere Druck auf der rechten Seite vorherrscht, wenn man sich mit dem Wind im Rücken aufstellt. Auf Norwegisch erleichtert die gemeinsame Wurzel von „hoch” (= høy) und „rechts” (= høyre) die Einprägung dieses Merksatzes. Im Englischen gibt es die Entsprechung „low to the left”. Lediglich deutschsprachige Meteorologen müssen dieses Gesetz entweder verstehen, auswendig lernen oder auf eine Fremdsprache als Merkhilfe ausweichen.

In der Mittagspause berichtete Jon von seinem Wochenende in Göteborg. Bei einem Pokerturnier im Casino wurde sein Freund sogar Fünfter und streifte einen ansehnlichen Gewinn ein, während Jon einiges verlor, was er jedoch durch den Import der höchstzulässigen Menge an günstigem Alkohol kompensierte.

Auf dem Weg zur Probe bemerkte ich, dass das Vorderlicht an meinem Rad nicht funktionierte. Offenbar möchte mich das Schicksal mit einem einwandfreien Fahrrad nicht langweilen. Nach einem 20-minütigen Einspielen, bei dem ich viel über die heikle Intonation mit einem alten Rohr lernte, probten wir ausschließlich Stücke für das Julekonsert. Nachdem sich meine Unzufriedenheit mit der Klangqualität bei den „Norwegian Evergreens”, „I saw Mommy Kissing Santa Clause” und „Fanfare Prelude on Ode to the Joy” unaufhaltsam gesteigert hatte, wechselte ich vor der Pause auf ein neues, völlig unbespieltes Qualitäts-Rohr, das ich vor Monaten vom Lehrer meiner Lehrerin bezogen hatte. Die mit einem Schlag weihnachtlich-samtige Obertonreihe riss den Dirigenten Kai in der Pause zu der Aussage hin, dass ich mit Anette und Irene über das Flugticket für das Konzert verhandeln sollte. Der Sofienberg Musikkorps bräuchte beim Weihnachtskonzert unbedingt eine Oboe. Langfristig sollte ich mir in Oslo eine Stelle suchen oder mein Studium hier fortsetzen, damit ich dem Verein erhalten bliebe. Im Gegenzug überhäufte ich Kai mit ehrlichen Komplimenten zu seiner bewundernswerten Arbeit mit der Kapelle, aus der er in wenigen Wochen das Optimum herausgeholt hatte. Dabei schaffte er es, mit den richtigen Worten seine Vorstellung von der Musik in Bilder umzuwandeln, mit denen jeder, auch des Norwegischen nicht Mächtige, etwas anfangen konnte. Obwohl Kai gelernter Schlagzeuger ist, legt er ein einzigartiges Gespür für die vielfältigen Schwierigkeiten in allen Registern an den Tag. Im spärlich beleuchteten Keller neben dem dampfenden Würstelkochtopf konnte ich nicht ganz eindeutig feststellen, ob er unter seinem Vollbart errötete. Bestimmt habe ich seine norwegische Bescheidenheit durch diese Lobeshymne ganz schön herausgefordert.

Nach der Pause erhielten wir die Noten von „TVs Julafton”. In diesem Medley reihen sich bekannte Melodien aus dem weihnachtlichen Disney-Film aneinander, der jährlich am 24.12. im skandinavischen Fernsehen gezeigt wird. Trotz des schwedischen Ursprungs boykottierten die Kollegen die Gesangspassage mit schwedischem Text nicht. Der Bekanntheitsgrad der Melodien erleichterte ihnen offensichtlich die fehlerlose Interpretation der fordernden Synkopen, die ich nicht einmal beim zweiten Durchgang richtig erwischte.