29.10. Andis Geburtstag
Mit „Du bist alt” aus der Serie „Sponge Bob” in voller Lautstärke befeuerte mein Laptop Andi zum Aufwachen an seinem heutigen Geburtstag. Nach der nächtlichen Kaltfront, die von Mitternacht bis 5 Uhr der Niederschlagsbilanz 15 l/m
2 hinzugefügt hatte, zeichnete sich in der Morgendämmerung durch das postfrontale Absinken ein sonniger Tag ab. Statt der gestrigen 14°C verließen wir heute bei 7°C das Haus.
Quelle:
http://www.wetter3.de/Archiv/. Abgerufen am 09.11.2014.
Während ich im Labor eine fertige PCR-Platte mit Formamid und einem Größenstandard für die Fragmentanalyse vorbereitete, steckte Jon seinen Kopf zur Tür des Post-PCR-Raums herein, um mir anzubieten, ihn für einen Western Blot zu Lisa ins Rikshospitalet zu begleiten. Da ich die quirlige Halb-Chinesin und ihre kulinarischen Geheimtipps schon vermisst hatte, kam ich nach dem Starten der Kapillarelektrophorese nach.
Allgemein gültige Laborregeln geflissentlich ignorierend traf ich Jon und Lisa mit ihren Wasserflaschen und Smartphones neben Methanol, Polyacrylamidgel und anderen Chemikalien an. Während die angelegte Spannung die Proteine im Gel nach ihrer Größe elektrophoretisch auftrennte, zeigte mir Lisa Bilder norwegischer Weihnachtsgerichte. Julepølse (= Weihnachtswurst) mit surkåk (= Sauerkraut), lutefisk (= Laugenfisch, ein gewässerter Trockendorsch) mit bacon (= Speck), erterstuing (= Erbsenpüree) und poteter (= Erdäpfel) sowie das klassische Weihnachtsessen pinnekjøtt (= wörtlich „Fleisch am Spieß", meist Lammrippen) mit kålrabistappe (= Kohlrabipüree) sorgen für einen abwechslungsreichen Speiseplan an den Feiertagen. Die Regale im Supermarkt mittlerweile erobert hat der rakfisk (= fermentierter Fisch), zu dem ich mich bisher noch nicht überwunden habe. Zuerst muss ich mich in einem
Vinmonopolet (= Alkoholgeschäft für Getränke ab ca. 5 Volumsprozent) mit reichlich
Aquavit (= skandinavischer Kümmelschnaps) eindecken, um den möglicherweise unerträglichen Nachgeschmack rasch neutralisieren zu können. Mit risengrynsgrøt (= Milchreis) als Nachtisch ließe sich das Grausen endgültig beseitigen. Der Milchreis wird zu Weihnachten in Form von
riskrem mit Vanillezucker, gehackten Mandeln, Himbeer-Sirup sowie Vanilleeis oder Schlagobers zu einem Festtagsdessert veredelt.
Passend zu diesem kulinarischen Exkurs zur Überbrückung der Wartezeit brauten wir den
Western Blot wie in einer Hexenküche zusammen. Zuerst stellten wir literweise Puffer aus konzentrierten Stocklösungen her und mischten sie wie gelernte Barkeeper. Aus genießbarem Milchpulver rührten wir mit einem Magnetrührer eine Milchlösung an, die zum Blockieren freier Antikörper-Bindungsstellen eingesetzt wird. Dann präparierten wir die hauchdünnen Membranen für den Blot wie ein Wiener Schnitzel, indem wir sie zuerst für eine Minute in einer Plastikwanne mit Methanol wendeten, dann mit der Pinzette in eine Wanne mit destilliertem Wasser überführten und nach zwei Minuten in der letzten Wanne mit Transferpuffer überschichteten. In einer Plastikkassette legten wir schichtweise Schwamm, Filterpapier, Gel, Membran, Filterpapier und Schwamm aufeinander, verschlossen das „Sandwich” und setzten es unter Strom, um die aufgetrennten Proteine vom Gel auf die Membran zu transferieren (= „blotten”).
Während Jon und ich unser matpakke im møterom einnahmen, unterhielten wir uns über norwegische Geschwindigkeitsbeschränkungen. Das Übertreten der vorgeschriebenen 50 km/h im Ortsgebiet, 80 km/h im Freiland bzw. je nach Beschilderung 90-110 km/h auf dem motorvei (= Autobahn) wird mit rigorosen Strafen geahndet. Seine Tante bezahlte vor kurzem ca. 3000 NOK (ca. 355 €), weil sie im Ortsgebiet um 15 km/h zu schnell unterwegs war. Für Alkohol am Steuer gilt eine Grenze von 0,2 Promille. Ab 0,4 Promille wird der Führerschein für 6 Monate entzogen. Diesen besitzen in Oslo ohnehin nicht viele, weil er teuer und überflüssig ist. Jon zeigte sich mit dem öffentlichen Verkehrsnetz sehr zufrieden und greift gelegentlich auf Carsharing zurück. Im Winter belächelt er dafür die Autofahrer, die sich mit Schwung über die von den Schneepflügen aufgetürmten Schneemassen katapultieren müssen, um ihre Parklücke zu verlassen.
Als Jon nachmittags für das Anbringen des primären Antikörpers auf den Western Blot erneut ins Rikshospitalet aufbrach, zog ich die Auswertung meiner unzähligen Fragmentanalysen vor. Dadurch entging ich geschickt einer sehr wahrscheinlichen overtid (= Überstunde).
Da morgen unser Kollege Lars Erik nach seiner Kündigung seinen letzten Arbeitstag im SINTEF haben würde, hatte ich Ingun versprochen, für den felleslunsj (= gemeinsames Mittagessen) einen Mohnstrudel zu backen. Von den Erzählungen über die Opiate und positiven Drogentests hatte sich Lars Erik im Zuge der Kostprobe von Mamas Mohnzelten schon beeindruckt gezeigt, sodass sich der Strudel als berauschendes österreichisches Abschiedsgeschenk förmlich aufdrängte. Mangels meiner Erfahrung geriet er überaus länglich, sodass er nur diagonal auf das Backblech passte. Obwohl ich vorschriftsmäßig mit der Gabel auf ihn einstach, riss er in der Mitte über die ganze beträchtliche Länge auf. Mit dem unbeabsichtigt hohen Salzgehalt traf ich genau den norwegischen Geschmack, da meine Kollegen von klein auf an gesalzene Butter gewöhnt sind. Während österreichische Rezepte oft eine Prise Salz verlangen, verwendet man in Norwegen beim Backen stattdessen etwas mehr Butter. Im Geschäft muss man bei Butter und Margarine den Zusatz „uten salt” (= ohne Salz) meist mit der Lupe suchen. Dann verzichtet man jedoch auf die selbst bei Kühlschranktemperatur gegebene Streichfähigkeit als praktischen Nebeneffekt.
Während Andi mit Gordon im Sprachkurs die Schulbank drückte, besorgte ich die Zutaten für seine Geburtstagstorte und brachte die in Norwegen mit Pfand belegten Bierdosen zurück. In Gedanken bereits bei vollen Dosen vergaß ich die Pfandrückgabequittung im Automaten. Als ich kurz darauf vom Bierregal, dem werktags um 18 Uhr der Riegel vorgeschoben wird, zurückkehrte, hatte ein wegen seiner gebrochenen Nase Respekt einflößender Mann netterweise meinen Bon neben den Automaten gelegt. Erneut imponierte mir diese selbst in der Großstadt spürbare ehrliche und vertrauensvolle Geisteshaltung.
Obwohl Kürbisse und Süßigkeiten dieser Tage in nahezu jedem Supermarkt feilgeboten wurden, schob ich den Schnäppcheneinkauf für meine Rückkehr von der Tagung am Samstag auf. Wie ich von meinen Kollegen erfahren habe, entstand der Trubel um Halloween auch in Norwegen erst im Laufe der letzten 10-20 Jahre. Während Kinder mit dem Sprüchlein „knask eller knep” auf die Jagd nach Süßigkeiten gehen, übertrumpfen sich Jugendliche auf Halloween-Parties gegenseitig mit abschreckend eingefärbten Gerichten.
Geradezu appetitlich arrangierte ich für Andis Geburtstagstorte in Anlehnung an sein soeben abgeschlossenes Lebensjahr 3 + 4 verschiedene Biersorten mit je einem Teelicht auf einem Teller, stellte eine Tafel
Kvikk Lunsj in die Mitte und verzierte das Werk mit Blättern. Da mein Sauerteigbrot ohne Mehl auf dem Backpapier gehen musste und diesmal von einer Zellstoff-Kruste ummantelt ist, während Andis Geburtstagskuchen optisch und geschmacklich überzeugte, sollte ich vielleicht in Zukunft ihm das Backen überlassen.
Inzwischen hatte ich vom Geburtstagskind persönlich ein SMS mit der Einladung erhalten, nach seinem Sprachkurs in die Pizzeria ums Eck mitzukommen. Da ich mein Handy hier nur als Wecker benütze, gleicht meine Erreichbarkeit einem Lotteriespiel. Im „Pane & Vino”, dem Stammlokal des Sofienberg Musikkorps, fanden sich schließlich der Ire Gordon, der Italiener Francesco, die Spanierin Margot sowie die Waldviertler Andi und Anna zum Feiern ein. Anna II musste wegen chronischer Magenprobleme leider absagen. Bestimmt hätte sie wie Margot und ich ebenfalls eine Pizza in Herzform serviert bekommen. Laut Francescos kritischem Urteil verdiente das Lokal durchaus einen zweiten Besuch. Allerdings würde der gebürtige Italiener die „Pizza Norway”, die selbstverständlich mit Würsteln belegt ist, auch dann nicht bestellen.
Die drei Männer genehmigten sich je ein
Ringnes, während Margot und ich beim Wasser blieben. Auf dieses griff Andi zurück, um den Schluckauf nach einem Stück meiner scharfen
Diavola – die grammatikalisch weibliche Pizza entlarvt jeden Möchtegern-Italiener – zu bekämpfen. In der geselligen Runde erzeugte die sprachliche Vielfalt teilweise Verwirrung, da laufend zwischen Englisch, Hochdeutsch, Waldviertlerisch, Spanisch, Italienisch und Norwegisch gewechselt wurde. Andi ließ sich von der Schandtat, sein nicht vorhandenes Urlaubsgeld für die ganze Runde auszugeben, unangenehmerweise nicht abbringen. Daher sei ihm an dieser Stelle nochmals herzlich für die großzügige Einladung gedankt!
Auf dem Heimweg berichtete Gordon von seinen Plänen mit Anna II, an einem Wochenende im November eine Hüttenwanderung zu unternehmen. Jedes Mitglied beim DNT (= Den Norske Turistforening), dem norwegischen Pendant zum Alpenverein, erhält einen Schlüssel für alle Selbstversorger-Hütten. Nach dem Vertrauensgrundsatz hinterlässt man dort Geld im Wert der konsumierten Nächte, Lebensmittel und Heizmaterialien.
Während der heutige Tag in Oslo ziemlich genau 9 Stunden dauerte, wurde Wien sogar mit über 10 Stunden Tageslicht verwöhnt, wie die Sonnenauf- und -untergangszeiten zeigen.
Oslo: 7:30 und 16:31
Wien: 6:34 und 16:42