16.11. Julenissen kommer fra Drøbak
Wegen der ausreichenden Helligkeit verzichtete ich aus Faulheit auf die Installation des neuen Vorderlichts und radelte halb erleuchtet zum Bussterminalen in Grønland. Zur Vorsicht montierte ich das Rücklicht ab und nahm es mit auf die Reise. Nachdem ich den richtigen Bus entdeckt hatte, trat ich um 40 NOK (ca. 5 €) für zwei zusätzliche Zonen die 50-minütige Fahrt ins südlich gelegene Drøbak an. Die unabsichtlich ausgewählte, langsame Verbindung ließ nahezu keine Haltestelle entlang der Ostküste des Oslofjordes aus, der seine ungeahnten Weiten leider im Nebelgrau verbarg. Da das Wetter nächstes Wochenende keine nennenswerte Verbesserung erwarten ließ und weit und breit kein Schnee in Sicht war, tröstete ich mich rasch über diese Umstände hinweg. Dass ich den Regenschirm vergessen hatte, interpretierte ich optimistisch als Zeichen seiner Überflüssigkeit. Obwohl sich der Winter bisher nur zögerlich präsentiert hatte, konnte ich für meinen Aufenthalt bereits das kompakte Erleben von drei Jahreszeiten verbuchen.

Kurz nach 11 Uhr erblickte ich Siri verlässlich an der vereinbarten Haltestelle namens Lysne. Bevor wir zu einem Rundgang aufbrechen konnten, lernte ich dank eines unvermeidlichen WC-Besuchs bei ihr zu Hause ihre Mutter und dessen Freund kennen, die gerade beim selbst für norwegische Verhältnisse verspäteten Sonntagsfrühstück saßen. Mein liebenswürdiger Eindruck der Gastgeber wurde von der sympathisch chaotischen Wohnung abgerundet.

Unser Weg in das Städtchen führte uns zunächst an den Strand, der nach einer ungeschriebenen Regel mit drei separaten Bereichen für Senioren, Familien und die Jugend aufwartete, wobei letztere sich an den Sprungtürmen konzentrierte. Trotz des nebeligen Ausblicks konnte ich mir ausmalen, dass diese Kulisse im Sommer wie geschaffen zum Schwimmen und für Bootsfahrten im Oslofjord wäre. Siri berichtete mir von einem Erlebnis, bei dem ihr Boot kenterte, als es hinter der gigantischen Colorline-Fähre, die Oslo mit Kiel verbindet, in den immens hohen Wellengang geriet. An der Strandpromenade begegneten wir Siris Hauptschullehrerin, deren großer Pudel mit einem winzigen Schoßhündchen wetteiferte, wer mehr Respekt vor dem jeweils anderen hatte. Als mich selbst beim Anblick des Ankers des Schweren Kreuzers „Blücher” kein historischer Geistesblitz zum zweiten Weltkrieg streifte, bekannte Siri, dass sie erst heuer von diesem geschichtsträchtigen Ereignis erfahren hatte. Das Kriegsschiff geriet 1940 vor der Festung Oscarsborg, die in der Drøbak-Enge des Oslofjords auf einer Insel liegt, ins Kanonenfeuer der Norweger, sodass die geplante Invasion Oslos scheiterte. Seitdem dient der „Blücher”-Anker als beliebtes Hintergrundmotiv für Hochzeitsfotos.

Blücher Anker

Weil in der Kirche gerade der 12-Uhr-Gottesdienst gefeiert wurde, begnügten wir uns mit der Besichtigung des angrenzenden Friedhofs. Dabei erfuhr ich, dass die Gräber klein und schlicht gehalten werden mussten, was das Fehlen der Gräbereinfriedungen in allen bisher besichtigten Friedhöfen erklärte.

Kirche in Drøbak

Da die Stadtführung von Drøbak einst beschlossen hatte, dass der julenisse (= Weihnachtsmann) hier geboren worden war, ließ die Errichtung des Julenissens postkontor (= Weihnachtspostamt) nicht lange auf sich warten. Weil die Zeit dort stillsteht und die antike Uhr vor der Schwelle unentwegt 12 Uhr anzeigt, können das ganze Jahr über Briefe an den Weihnachtsmann aufgegeben werden. Touristen werden hier von einem unüberschaubaren Angebot an unnützen, kitschigen Souvenirs erdrückt.

Julenissens postkontor

Julenissen im postkontor

Obwohl das julehuset (= Weihnachtshaus) ganzjährig geöffnet hat und auch im Sommer das Feuer von Weihnachten am Lodern hält, gestand Siri, vor 10 Jahren das letzte Mal hineingegangen zu sein. Daher hatten wir uns ungefähr zeitgleich an den über zwei Stockwerke verteilten Weihnachtsmännern, Schlitten, Puppen, Schneekugeln und Schnapsgläsern sattgesehen.

Julehuset in Drøbak

Julehuset innen

Julenissen im julehuset

Demnächst würde am Hauptplatz ein Christbaum aus Berlin aufgestellt, für den im Austausch den Deutschen eine Tanne aus Drøbak zur Verfügung gestellt würde. Siri erklärte den Rundgang in dem verschlafenen kleinen Nest überraschend früh für beendet. Auf dem Heimweg liefen wir vor lauter Tratschen an dem weltberühmten Verkehrsschild an der Ortseinfahrt vorbei, sodass wir einige Höhenmeter absteigen mussten, um das heimliche Wahrzeichen Drøbaks zu besichtigen. Die Warnung vor dem kreuzenden Weihnachtsmann wurde vor Jahren höher gehängt, weil das Schild davor nicht nur auf betrunkene Witzbolde eine unwiderstehliche Verlockung zur Demontage ausübte.



In der Wohnung von Siris Mutter präsentierte Siri ihren selbst gebackenen Apfelkuchen, dessen Gitter mangels Geduld recht flächenhaft ausgefallen war. Dass manche Backwerke einer ausführlichen Erklärung ihrer gewünschten, jedoch im Selbstversuch unerreichten Optik bedürfen, kam mir von meinen Kuchen nur zu bekannt vor. Da wir jedoch einhellig dem Geschmack oberste Priorität einräumten, wurden wir nicht enttäuscht. Als leichte Beilage zu diesem köstlichen Nachtisch servierte Siris Mutter noch eine Packung Speiseeis. Mein subjektives Empfinden reiht die Norweger trotz des rauen Klimas beim Eiskonsum im internationalen Spitzenfeld ein, da die Eisverkäufer an der Aker brygge in Oslo selbst im November noch gute Geschäfte machen. Der künstliche Geschmack der julebrus (= Weihnachtskracherl) erinnerte mich ein wenig an Almdudler, sodass ich mir als Krönung vor meiner Abreise ein hoffentlich delikateres juleøl (= Weihnachtsbier) besorgen wollte. Zu Tee und Kaffee stöberten wir in Siris Deutsch-Lehrbuch aus der Hauptschule, dessen fortgeschrittenes Alter von der Lern-Diskette im Buchdeckel untermauert wurde. Wie erwartet, handelte es sich um eine deutsch-deutsche Ausgabe mit Fokus auf Pommes und Berlin. Österreich war immerhin ein Kapitel mit drei Seiten gewidmet, in dem in einfachen Sätzen Klischees über Wien und Tirol vermittelt wurden.

Diskette

Spontan beschlossen wir, um 16 Uhr auf das Konzert des Drøbak Musikkorps zu gehen, bei dem Siri in ihrer Jugend mitgewirkt hatte, bevor sie den niveauvolleren Sofienberg Musikkorps für sich entdeckte. Vor der Abfahrt zu einer Bekannten spendierte uns Siris Mutter je eine Konzertkarte und ließ Siri später mit einer Kurznachricht wissen, dass ich jederzeit in ihrer Wohnung willkommen sei und bei Bedarf übernachten könne. Von dieser rührenden Gastfreundschaft fühlte ich mich noch lange geschmeichelt.

Das Konzert stand unter dem Motto „Krig og kjærlighet” (= Krieg und Liebe) und lockte einige Besucher in den Turnsaal der Volksschule. Diese trugen auch zu einer rapiden Verringerung des Durchschnittsalters bei, das die überwiegend grau- bis weißhaarigen Musiker nicht verhehlen konnten. Siri war vor ihrem Austritt mit 23 Jahren stets die Jüngste gewesen. Erstaunlicherweise brillierte die steinalte Solo-Flötistin mit gichtloser Fingerfertigkeit und einem lupenreinen Ton. Während der Musikkorps ein unrühmliches Arrangement von „Hair” ausgewählt hatte, erkannte ich den „Soul Bossanova” wohlwollend wieder. Auch die Filmmusik zu „Schindlers Liste” fand ich ergreifend interpretiert. Da der Verein auf ein Programmheft verzichtet hatte, entging mir der Titel des einzigen Marsches. Dabei zeigten die ausnahmslos von auswärts rekrutierten Schlagzeuger eindrucksvoll ihr Können.

Uralte Musiker

Nach einer guten Stunde wurde unter allen Besuchern ein Obstkorb verlost, den rein zufällig ein Musiker gewann. Bevor sich meine oboistischen Fertigkeiten bis zum Dirigenten durchsprechen konnten, verließen Siri und ich während des Applauses nach der Zugabe „Star Wars” den Turnsaal, damit ich den Bus um 17:15 erwischte. Leider reichte die Zeit nicht mehr für ein Abschiedsfoto mit Siri. Als nach einer Viertelstunde die Lichter im Bus ausgingen, dachte ich bereits an Sparmaßnahmen und wechselte in die letzte Reihe, um unter den nur dort installierten Leselampen weiter in dem Wälzer „Die Brüder Karamasow” zu schmökern, bevor 10 Minuten später wieder der gesamte Fahrgastraum erleuchtet war. Kurz vor der Ankunft imponierten mir einige Vororte von Oslo mit ihren vielen Holzhäusern als lebenswerte Wohngegenden. Trotz der heiklen Lage des Bussterminalen in Grønland fand ich mein Rad ohne sichtbare Veränderung vor. In der Wohnung bereitete ich den letzten raumflutend aromatischen fårikål (= Hammel in Kraut) zu, dem Andi und ich mit einem Achterl aus der letzten, von Martinas Import übrigen Flasche Rotwein einen würdevollen Rahmen verpassten. Zum versöhnlichen Abschied glückten mir die zweiten und letzten in Oslo gebackenen Buchteln in den vorgesehenen Dimensionen (Eintrag vom 2.11.), sodass ich der obligatorischen Kostprobe für meine Laborkollegen diesmal keine schriftliche Abhandlung über das originale Aussehen dieser Mehlspeise beilegen müsste.

Da sich die Sonne heute erfolgreich hinter dem Hochnebel versteckte, blieb mir die verkürzte Tageslänge angenehm verborgen. Der Sonnenuntergang findet in Oslo bereits 14 Minuten früher statt als zur Wintersonnenwende in Wien.

Oslo: 8:15 und 15:48
Wien: 7:01 und 16:16