31.10. Knask eller knep
Wie eine Geschäftsfrau machte ich mich in der Früh mit Andis kleinem Trolley auf den Weg zur U-Bahn. Die zwei Stunden vor der Abfahrt nach Gardermoen nutzte ich, um die letzten PCR-Platten der Fragmentanalyse zu unterziehen. Dabei kam ich Ingun und Lene zuvor, gegenüber denen ich gestern wegen meiner größeren Probenanzahl und geringeren Pipettiererfahrung im freundschaftlichen Wettstreit um die Thermocycler für die PCR das Nachsehen hatte. Kurz vor 10 Uhr machten Jon und ich uns auf den Weg zum Rikshospitalet. Im mit bekannten Gesichtern voll besetzten Bus verbrachte ich unter Beachtung der allgemeinen Gurtpflicht neben Jon eine kurzweilige Fahrt ins Best Western Airport Hotell, auf der wir unter anderem einen
Byggmax passierten, dessen Namensgleichheit mit dem österreichischen
Baumax mit der exakt identen Farbgebung der Logos vollendet wurde.
Die Wartezeit in der langen Schlange vor der Rezeption verkürzten wir mit einem Vergleich der vorweihnachtlichen Bräuche. Während Jon zum ersten Mal von Krampus und Nikolaus hörte und wieder einmal über die Vereinbarkeit der vielen katholischen Feiertage mit der europäischen Arbeitsmoral staunte, erfuhr ich, dass manche Weihnachtsfeiern in Oslo bereits im November stattfinden. Gelegentlich könne ein julebord (= Weihnachtstafel) in ein Gelage ausarten, sodass ich mich in den kommenden Wochen über die sprunghaft steigende Zahl an torkelnden Betrunkenen auf Osloer Gehsteigen nicht wundern sollte.
Während für eine reguläre Nacht in einem Doppelzimmer mit Frühstücksbuffet im
Best Western Airport Hotell mindestens 900 NOK (ca. 105 €) hingeblättert werden müssen, bekam jeder Konferenzteilnehmer ein Einzelzimmer mit zwei Betten spendiert. Zur Absicherung gegen Plünderung der Minibar oder etwaige Schäden am Inventar mussten wir unsere Kreditkarten autorisieren lassen, was meine Kollegen als Selbstverständlichkeit achselzuckend hinnahmen. Nach der Ankunft eines weiteren Busses und mehrerer Privatautos war schließlich das ganze Hotel mit 120 bis 150 Pathologen, Pathologie-Assistenten, Bioengineers und Studenten aus den drei großen Osloer Krankenhäusern belegt. Manche Teilnehmer waren sogar von der als „Ausland” deklarierten Westküste, nämlich aus Bergen bzw. Stavanger, angereist.
Nachdem wir unsere luxuriösen Zimmer bezogen hatten, die durch die doppelt verstärkten Fenster trotz des Fluglärms eine ruhige Nacht versprachen, stürmten wir das üppige Mittagsbuffet mit Lachs in allen Varianten und unzähligen anderen norwegischen Köstlichkeiten. In weiser Voraussicht und aus Zeitmangel sparte ich mir die Nachspeisen für die Kaffeepausen auf.
Zum unkonventionellen Beginn der Tagung um 12:20 fanden wir als Begrüßungsgeschenk ein Schokoladeherz auf einem Schreibblock auf unseren Plätzen vor. Unter der Moderation eines Chinesen lauschten wir der ersten „Science Session”. Während die meisten Vortragenden in einem flüssigen Englisch referierten, kam es immer wieder zu technischen Störungen. Die viel zu detaillierten Ausführungen eines Onkologen wurden durch das hochfrequente Flackern des Beamers bestraft, was den Armen völlig aus dem Konzept brachte. Das Mikrophon verweigerte ab und an seine Dienste, wobei die Witze über Halloween als Ursache im Lauf des Nachmittags bis zum Fremdschämen überstrapaziert wurden.
Während Stine für kein Foto zu gewinnen war, zeigten sich die Pathologie-Assistentinnen Lisa und Frazia für die Kamera von ihrer jeweils charakteristischen Seite.
Nicht nur die technischen Gebrechen zwangen manche Referenten zu einer Pause. Auch der Flugbetrieb sorgte für eine mächtige Geräuschkulisse, wobei rein zeitlich sogar Andis Flieger nach Schwechat mit einem Dröhnen korrelierte. Er würde durch die anstehenden Feierlichkeiten rund um seinen Geburtstag endlich ein wenig Zerstreuung von den beruflichen Turbulenzen bekommen.
In der ersten Pause wurden die Poster im Gang zu Gunsten der Kaffeemaschine geflissentlich ignoriert, was bei aller Bescheidenheit und Verweigerung von Posterpreisen nicht im Sinn des Erfinders liegen kann. Erstaunlicherweise wurde der Zeitplan recht diszipliniert eingehalten, sodass wir erst bei der zweiten Pause um einen Vortrag in Verzug waren. Dies wurde durch einen früheren Beginn der „Technique-Session” kompensiert, sodass das Publikum den folgenden Präsentationen während des möglichst geräuschlosen Genusses von Kaffee, Tee und skolebrød (= „Schulbrot”) lauschte. Diese Süßspeise stand in einer mit Bauernkrapfen vergleichbaren Variante mit Vanillecreme in der Einbuchtung und Kokosglasur bzw. in Schneckenform mit Rosinen und Zuckerglasur zur Wahl. Wenn in norwegischem Backwerk kein Zimt vorgesehen ist, wird dieser unverzeihliche Mangel offenbar mit reichlich Kardamom überkompensiert.
Meinem exorbitant gestiegenen Konsum unsynchronisierter amerikanischer TV-Serien verdankte ich die Assoziation eines Referenten mit der Rolle des Barney Stinson aus „How I Met Your Mother”. Trotz der frappierenden Ähnlichkeit in Auftreten, Gestik, Mimik, Statur und vor allem den Gesichtszügen teilten meine Sitznachbarn meine Auffassung nur bedingt.
Nicht nur inhaltlich erweiterte die Tagung meinen Horizont. Nebenbei studierte ich überaus geschickte, annehmbare und unzumutbare Präsentationstechniken. Der peinlichste Vortrag wurde wörtlich von einem Zettel heruntergelesen, während ein humorvoller Finne mit Schweizer Wurzeln derart mitreißend über Massenspektrometrie referierte, dass er damit auch in Kindergärten und Altersheimen auftreten hätte können. Ihm kam der Ort der Tagung sehr entgegen, da er seinen Vortrag quasi im Vorbeifliegen erledigte, bevor seine TOF (time of flight) zwei Stunden später anstand. Nach diesem fesselnden Höhepunkt des Tages, von dem ich im Zuge meiner Bachelorarbeit 2 noch profitieren könnte, verließ ich auf Zehenspitzen den Konferenzraum. Dadurch verzichtete ich auf einen für mich irrelevanten Einblick in die krankenhausinterne Dokumentations-Software, um mich stattdessen in Ruhe für den Abend im Museum fertig zu machen. Mein Vorsprung gegenüber den anderen betrug lächerliche 5 Minuten, weil der Vortragende kurz und bündig die Vorteile des Computerprogramms unterstrich, bevor er zur allgemeinen Erleichterung den gemütlichen Teil des Abends mit den Worten einleitete, dass er selbst schon hungrig sei und nicht länger reden möchte.
Gemäß Zeitplan versammelten sich um 19 Uhr alle in der Empfangshalle des Hotels, wobei einige Kolleginnen erstaunlich herausgeputzt antanzten. Mit teilweise ungangbaren High Heels stöckelten sie beim zweiminütigen Spaziergang zum
Norwegian Armed Forces Aircraft Museum durch Regen und herbstliche Kälte. Durch die Dunkelheit und den nahtlosen Teppich an Regenschirmen konnte ich leider keine historischen Stätten der ehemaligen Militärbasis erkennen.
Im Museum wurden wir für Führungen in drei Gruppen aufgeteilt, wobei ich aufgrund meines unauffälligen Namens einer von zwei norwegischsprachigen Gruppen zugeordnet worden war. Nachdem ich erfolgreich eine Kandidatin für einen glatten Tausch gefunden hatte, staunte ich darüber, dass meine Molpat-Kolleginnen Alma und Iselin in der englischen Gruppe gelandet waren, was wohl in ihren konsonantenreichen Nachnamen begründet war. Ein Historiker versuchte uns mit ausschweifenden Schilderungen über die Geschichte der Fliegerei, die in den Kriegen eingesetzten Militärflugzeuge und die norwegische Verteidigung für seine offenkundige Leidenschaft zu begeistern. Obwohl einige Originale der Flugobjekte im Hangar ausgestellt waren, hielt sich unser Staunen darüber in bescheidenen Grenzen.
Per Arne sollte mit seiner Vermutung Recht behalten, dass die von Amateuren geleiteten anderen beiden Gruppen deutlich früher entlassen wurden und bereits an der Tafel saßen, während wir mit unserem Experten noch im zweiten Weltkrieg weilten. Schließlich landeten Alma, Iselin und ich mit unseren Molpat-Kollegen Kari, Michelle und Jon an einem Tisch, der um Geir von der Immunhistochemie erweitert wurde. Interessanterweise war für mich der Platz zwischen den beiden Männern freigehalten worden.
Die Bondgirls Michelle, Iselin und Alma
Jon und ich sowie Geir hinter der Blume
Als alle ihre Plätze an den Rundtischen mit den Klappstühlen eingenommen hatten, hielt der Abteilungsvorstand Tor Jac aus dem Cockpit eines Flugzeugs mit integriertem Schleudersitz eine kurze Ansprache, in der er sich für die Führungen und den reibungslosen Ablauf bedankte und uns mit einem Glas Wein und einem gesitteten „Skål!” einen schönen Abend wünschte.
Zu einem Glas Weißwein als Aperitif wurde uns Carpaccio als Vorspeise serviert. Nach einer Woche mit beinahe täglich Hühnerfleisch auf dem Speiseplan rang mir das Hendl in leicht angebrannter Soße als Hauptspeise ein müdes Lächeln ab. Zunächst hielt ich die Benzpyrene für ein beabsichtigtes Geschmackserlebnis der Edelgastronomie. Als ich jedoch zum mit einer Erdbeere verzierten Schokolade-Pudding einen Schluck vom Rotwein nahm und nicht einmal Spuren von Aromen meinen Gaumen kitzelten, war der Beweis erbracht, dass der Sponsor dieses Dinners kein Vermögen ausgegeben hatte. Da Geir mit den zwei inkludierten Gläsern Wein nicht genug hatte, ließ er sich ein Bier bringen und auf seine Zimmerrechnung schreiben. Als vermeintlicher Experte riet er mir, in einem
Vinmonopolet das „Haandbryggeriet Fyr og Flamme Indian Pale Ale” mit über 6 Volumsprozent zu kaufen. Dort fände ich auch
Aquavit, den skandinavischen Kümmelschnaps, in allen Geschmacksrichtungen, wobei zusätzliche Gewürze der winterlichen Version eine schwerere Note verleihen. Durch manche seiner geringschätzigen Seitenhiebe auf meine Freizeitgestaltung und meinen Blog ließ Geir gelegentlich arrogante Züge aufblitzen, wobei er im Grunde ein unterhaltsamer Kerl war.
Nachdem wir der etwas kalten Atmosphäre im Hangar entflohen waren, setzte sich der Abend in der Hotellobby fort. In Windeseile hatten Pathologen in Feierstimmung alle Sitzgelegenheiten bevölkert und eine lange Schlange vor dem Zapfhahn an der Bar gebildet. Lisa war mit den zwei gesponserten Achteln Wein bereits an ihre Grenzen gestoßen, da ihr wie den meisten Asiaten wegen einer Genmutation ein Enzym zum Alkoholabbau, die Alkoholdehydrogenase, fehlt, sodass sie am Samstag zu trinken aufhören muss, um nüchtern in die nächste Arbeitswoche zu starten.
Weder die unverschämt hohen Preise der Hotelbar noch das morgige Tagungsprogramm hinderten die Gesellschaft am ausufernden Genuss von
Ringnes in 0,6-Liter-Gläsern zu je 90 NOK (ca. 10,6 €). Geir gönnte sich ein Seidl
Carlsberg für 70 NOK (ca. 8,3 €) und gab mir in einer mit einem Schlag sehr privaten Unterhaltung Einblicke in seine erst vor kurzem in friedlichem Einvernehmen vollzogene Scheidung. Nach zweijähriger Ehe hatte er sich unlängst mit einem Kredit eine Wohnung für 2 Mio. NOK (ca. 240 000 €) gekauft, die zum einen genug Raum für seine über 30 Paar Schuhe bietet und zum anderen stolze 500 Meter vom Haus seiner Mutter entfernt liegt. Zu allem Überfluss hat er ihr sogar den Zweitschlüssel vermacht, was aber bis auf Widerruf mit dem Verbot, ihn zu benützen, verknüpft war. Bis zu dieser Offenbarung und seiner Bierspende hatte ich Geir in eine völlig andere Schublade eingeordnet. Diese überraschende Wende mündete um halb 1 jedoch in einem allgemeinen Aufbruch, dem ich mich wegen des ereignisreichen Tages dankbar anschloss. Dabei übersah ich die ausdauernde Molpat-Gruppe des SINTEF, die in einem uneinsichtigen Winkel noch für eine gute Stunde weiterfeierte.
Beim ersten Versuch, mich mit dem ungewohnt schmalen Bett zu arrangieren, wäre ich beinahe wieder herausgekugelt. Schließlich war mir aber eine wohlbehütete, ruhige Nacht vergönnt, weil durch die Unterbringung in Einzelzimmern die Dicke der Zimmerwände nicht auf eine akustische Probe gestellt wurde.
Die Sonnenauf- und -untergangszeiten im ernüchternden Vergleich:
Oslo: 7:35 und 16:26
Wien: 6:37 und 16:38