16.8. Arsenal-Areal oder die Katze im Sack
Mit Wehmut und einer Gegeneinladung nach Wien verließ ich die herausragende Gastgeberin Luna und hoffe sehr auf ein Wiedersehen. Nach dreistündiger Zugfahrt wartete in Mo i Rana eine Überraschung auf mich. Ich hatte über das Portal keine Couch gefunden und musste mich deshalb auf den Kontakt eines anderen Benutzers zu seinem Bekannten in Mo i Rana verlassen, hatte aber kein Foto gesehen. Als mich ein blonder, ca. 50-jähriger Norweger ansprach, stach mir sofort der modrige Geruch seines Trainingsanzugs in die Nase. Dies schmälerte meine übervollen Norwegen-Euphorie-Speicher nur unmerklich. Während der Autofahrt zu seinem Elternhaus, in dem er seit dem Tod seiner Eltern alleine lebt, beschlich mich eine harmlose Ahnung dessen, was mir bevorstand. In den letzten Dekaden waren viele Einwohner an Krebs gestorben, was den Abgasen des örtlichen Eisenwerks zugeschrieben wird, dessen Rauchschwaden bis vor 20 Jahren ungefiltert die im Freien getrocknete Wäsche rostrot eingefärbt hatten. Mittlerweile steigen die Abgase fortschrittlich weiß in den Himmel und hüllen Teile der Stadt in permanenten Dunst.

iron

Erling arbeitet für Evry, eine Telekommunikationsfirma, und erhält sein Essen in der Betriebskantine. An Wochenenden und im Urlaub lässt er sich von seiner 81-jährigen Tante oder anderen Verwandten bekochen. Diese Hinweise legten den Verdacht nahe, dass seine Küche mager ausgestattet sein würde und ich fragte mich, ob ich aus meinen mitgebrachten Zutaten Nudeln mit Thunfischsauce standesgemäß zubereiten könnte. Als er die Haustür aufsperrte, ergoss sich ein Schwall modriger Luft ins Freie. Mit dem überflüssigen Hinweis, dass er eingefleischter Arsenal-Fan sei, was eine Plakette unter der Hausnummer, ein Aufnäher auf seiner Hose und ein mannshoher Wandteppich im Wohnzimmer deutlich unterstrichen – sein Zimmer sah ich nicht von innen, das war bestimmt ein Arsenal-Schrein –, ließ er mich das Elternhaus betreten.

arsenal

Im Vorzimmer türmten sich Kartons und Plastiksackerl. Gut. Im mir zugedachten Zimmer „nur” Decken und Polster. Auch gut. Im Obergeschoss traf mich fast der Schlag. Sofern der Blick nicht durch ausrangierte Fernseher, Kästen und lose Holzbretter verstellt war, drängten sich in jedem erdenkbaren Winkel und auf jeder Ablagefläche uralte Zeitungen, Krempel, leere Einmachgläser, Gerümpel, Schrott, Klumpert, etc. in meine Wahrnehmung. In der Mitte des Wohnzimmers prangte ein sauberer, weil neuer, und überdimensionaler HD-Fernseher, den er unvermittelt aufdrehte und sich am Couchtisch vorbeizwängte, um die einzige freie Fläche des Zimmers, seine Couch, zu besetzen. Er erklärte mir, dass er sich jenes Match der Premier League ansehen müsse, das er durch die Fahrt zum Bahnhof teilweise verpasst hatte. Durch die fortschrittliche TV-Station könne er aber problemlos bis zu drei Stunden zurückspulen und das Entgangene in beliebiger Geschwindigkeit nachholen. Danach könnten wir in die Stadt fahren und er würde mir das Zentrum zeigen. Nach 5 Minuten dachte ich, dass dieser Zeitpunkt wohl bald kommen würde. Als er jedoch nach 15 Minuten auf die Leichtathletik-EM umschaltete, um dort nichts zu versäumen, brachte ich räuspernd einige Anspielungen auf das schöne Wetter und meine kurze Verweildauer von 24 Stunden ein. Erwartungsgemäß reagierte er nicht darauf, weshalb ich ihm direkt vorschlug, alleine in die Stadt zu gehen und mich umzusehen, da ich mir das trotz meines gelegentlich aussetzenden Orientierungssinns zutraute. Da er das wiederum nicht verantworten wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich widerwillig mit mir nach draußen zu begeben. Dabei ließ ich keine Gelegenheit aus, mich mit leichter Ironie dafür zu entschuldigen, dass er jetzt die wichtigen Spiele und Leichtathletik-Entscheidungen verpasse und ich deswegen ein erdrückendes schlechtes Gewissen hätte. Doch er beteuerte mit einer sichtlichen Erleichterung um die Mundwinkel, dass er ja mit dem Fernseher bis zu drei Stunden zurückschauen könne und das wirklich wichtige Match des Tages erst in zwei Stunden beginne.

Auf halbem Weg zum Zentrum bog er spontan beim Eisenwerk ab, um mit mir in den klokkehage (= Glockengarten) zu gehen, der als breit angelegter Weg an einem für Fabriksnähe erstaunlich glasklaren Fluss liegt.

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Zwischendurch bot er mir immer wieder an, Fotos von mir zu machen. Gut. Allerdings nicht nur mit meiner, sondern auch mit seiner Kamera?! Überraschenderweise war der Stubenhocker äußerst schnell zu Fuße, sodass wir den Weg eher im Laufschritt zurücklegten. Weil seine Bekannten den Fußballabend spontan absagten, hatten wir dank der 3-Stunden-Rückspulfunktion Zeit, den Spaziergang auszudehnen, ohne das Tempo zu reduzieren. Mit seiner Tante (81) geht er diesen Weg fast täglich, allerdings langsamer und nicht so weit. Daher bemerkte er mehrmals, dass er schon seit Juni 2013 diesen Weg nicht mehr so weit gegangen war, und bedankte sich für den netten Marsch.

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Ich wollte vor der Besichtigung des Zentrums kochen und essen, da es ohnehin bis 23 Uhr brauchbar hell sein würde, obwohl Mo i Rana bereits südlich des Polarkreises liegt. Während Erling „sein” Spiel zurückverfolgte, machte ich mich in der Küche ans Werk. Dass er nicht wirklich kocht und seine Essensgewohnheiten unregelmäßig sind, war eine überflüssige Randbemerkung. Auf dem Herd entfernte ich zunächst angewidert eine dicke Staubschicht. Auf der Suche nach einem Brett und Kochtöpfen musste ich aufpassen, um nicht auf dem undefinierbaren Bröselteppich auf dem Küchenboden auszurutschen. Als ich bei einem Topf den Deckel lüftete und dabei eine Asselfamilie aus ihrem Tiefschlaf riss, verging mir kurzzeitig der Appetit. Ich war dankbar, dass der Siedepunkt von Wasser durch die niedrige Seehöhe an die 100°C betrug und mein Hände-Desinfektionsmittel nicht den Handgepäcksbestimmungen der AUA zum Opfer gefallen war. Nachdem ich jegliches Geschirr dampfgereinigt hatte, fühlte ich mich der Aufgabe gewachsen. Gespeist wurde natürlich vor dem Fernseher, da im Gegensatz zu allen anderen verfügbaren Ablageflächen auf dem Wohnzimmertisch nur ein paar Fernbedienungen und ein einziger Zeitungsstapel weggeschoben werden mussten, um aufzutischen. Erlings Fertiggericht-erprobter Gaumen lobte mein Werk nach reichlichem Nachwürzen mit Salz und Pfeffer. Bei seiner Frage, ob ich gern Ketchup dazu hätte, zur selbst gemachten Thunfisch-Tomatensauce wohlgemerkt, handelte es sich leider nicht um den pointierten Humor norwegischer Fernsehwerbungen. Immerhin verzichtete er selbst doch auch darauf, was wohl die größte denkbare Anerkennung meiner Kochkünste bedeutete.

Beim anschließenden Stadtrundgang hielt sich meine Kommunikationsfreude sehr in Grenzen, weil eisiger Nordwind wehte, das Licht für schöne Fotos nicht mehr reichte, meine gedankliche Stricherlliste für Erlings „of course” und „for sure” längst überstrapaziert war und er mich andauernd mit seiner Kamera nervte, wobei er nach jedem Foto den Vergleich zog, dass mit meiner Kamera die Bilder so unglaublich viel besser würden. Meine Bemerkung, dass seine Kamera inzwischen übervoll mit Fotos von mir sein müsse, überhörte er geflissentlich. Zum Glück hatte das Zentrum von Mo i Rana nicht viel zu bieten und das rettende Bett im einzigen altpapierfreien Zimmer des Hauses konnte bald bezogen werden. Ganz untypisch norwegisch sperrte ich das Zimmer über Nacht zu.

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moholmen